19.03.2021
Innovation und Disruption: Wie ein Vorteil zum Nachteil werden kann

Innovation und Disruption: Wie ein Vorteil zum Nachteil werden kann


People prefer remembering to imagining. Memory deals with familiar things; imagination deals with the unknown. Imagination can be frightening—it requires risking a departure from the familiar. 

Shimon Peres, Präsident Israels, 2007–2014 [1]

Die Ritter waren lange Zeit eine Art Aushängeschild des Mittelalters. William the Conqueror hatte mit seinem Heer von gut gepanzerten Rittern im Jahre 1066 England erobert; seine Soldaten waren, strategisch gesprochen, „Die Festung“, die keiner besiegen konnte. Zu Pferd in schweren Rüstungen mit Lanzen und Helmen waren sie fast unbesiegbar. Dies änderte sich allerdings in der Schlacht von Crécy im Jahre 1346, als englische Truppen im Hundertjährigen Krieg gegen französische Ritter kämpfen. 

Die Franzosen hatten zwar fünf Mal so viele gut gepanzerte Krieger, doch konfrontiert mit der Durchschlagskraft des neuartigen, englischen Langbogens half ihnen ihre Panzerung herzlich wenig. Zudem waren die Schützen von der Insel sehr treffsicher. Bogenschießen war in England – anders als der Kirchenbesuch – jeden Sonntag Pflichtübung. 

Die Bogenschützen waren außerdem weit entfernt von den französischen Rittern positioniert und konnten sich relativ sicher fühlen. Für die Ritter der Grande Nation nahm die Schlacht daher kein gutes Ende. Die Pfeile durchschlugen die Panzerungen, viele Ritter wurden aus dem Sattel geschossen und lagen unbeweglich am Boden – leichte Beute für die englischen Landsknechte, die üble Spiele mit den wehrlosen Rittern trieben. Ihr schwerer Panzer, einst der ultimative Wettbewerbsvorteil, war für den am Boden liegenden Ritter der größte Nachteil geworden. 

Die Ritter sind schon seit langer Zeit verschwunden, doch die Disruption geht weiter. Die modernen „Ritter“, die zu sehr am Status quo hängen und das Neue nicht wahrnehmen, waren (und sind) die Kodaks, die „Blockbuster“-Videotheken, Atari oder die Praktiker-Baumärkte. 

Bei Kodak ist das ganze umso tragischer, da Kodaks Ingenieur Steven Sasson die erste tragbare Digitalkamera schon in den 70er Jahren entwickelte. Doch Kodak wollte einerseits nicht sein Kerngeschäft „kannibalisieren“ (sich gegen Kannibalisierung zu entscheiden ist immer ein großer Fehler, da man dann eben nicht von sich selbst, sondern von anderen kannibalisiert wird) und die Chemiker, die in großer Zahl für Kodak arbeiten, konnten in ihrem Chemie-Kosmos nichts mit einer Digitalkamera anfangen. Das alte Denken verhinderte so das neue Denken.[2]

Der Grund, warum viele etablierte Unternehmen scheitern, ist ihr Unvermögen, sich eine Welt ohne ihr Geschäftsmodell vorzustellen. Hinzu kommt, dass die meisten Angreifer zwar ein etabliertes Geschäftsfeld angreifen, aber meist keine Experten für genau diesen Bereich und daher auch nicht betriebsblind sind. Apple hatte weder den Walkman erfunden, noch war es ein Musiklabel oder ein Pionier des Internets. Dennoch gelang es Apple mit itunes, die erste webbasierte Musikbibliothek aufzubauen, für die Kunden auch zu zahlen bereit waren. Weder Sony, dem Erfinder des Walkmans, noch Microsoft, dem Erfinder des Internet-Explorers noch einem Plattenlabel wie Warner Music ist dies gelungen. 


[1] Aus dem Vorwort zu Dan Senor/Saul Singer: Start-up Nation: The Story of Israel’s Economic Miracle“, 2009

Die Übersetzung lautet: „Menschen erinnern sich lieber, als dass sie sich etwas vorstellen. Denn Erinnerung behandelt bekannte Dinge, die Vorstellung aber unbekannte Dinge. Erstere ist beruhigend. Letztere kann beunruhigend sein.“

[2] In: Kodak’s lessons in corporate innovation, FT, August 1, 2020 

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